Um die ‚richtigen Schweizer‘ zu finden, muss man ins Ausland gehen, denn in der Schweiz (vor allem in den Grossstädten) sind sie vom Aussterben bedroht. Ich habe in den letzen 18 Monaten mehr über uns gelernt als in den vorangegangenen 27 Jahren. Seit ich der Swiss Society begetreten bin (von der ich jetzt übrigens stolze Sekretärin bin), habe ich Schweizerischkeiten gesehen, die ich in der Schweiz entweder noch nie oder schon lange nicht mehr gesehen, oder die ich einfach nicht bewusst wahrgenommen habe. Angefangen hat es mit der Jass Championship. Nach langer Durststrecke kam ich endlich wieder einmal zum Jassen. Die Unterländer sind einfach nicht mehr interessiert an diesem Spiel und dauernd in die Berge fahren deswegen, kann ich ja auch nicht. Also fuhr ich nach Australien und konnte hier meinen Jasstrieb endlich wieder mal befriedigen – zusammen mit meinem Verlangen nach Aufmerksamkeit, als eine der zwei einzigen jungen MitspielerINNEN!

Am Fondueabend kam die offensichtlich typisch schweizerische Rücksichtslosigkeit und Ungeduld zum Vorschein. Vielleicht ist dies aber einfach ein menschlicher Charakterzug, wenn’s ums Essen geht. Dass es nicht zu Schlägereien zwischen den Tischen kam, ist erstaunlich. (Ach nein, Schlägereien gehören ja nicht zum Schweizer Stil.) Ich verwunderte mich darüber, wie ernst Leute gewisse Kleinigkeiten nehmen können. Ich bin auch immer wieder erstaunt über den typischen Schweizer Humor. Ich dachte eigentlich immer, mein Leben in der Schweiz sei lustig, doch hier fiel mir wieder auf, wie wenig – und wenn, was für einen seltsamen – Humor Schweizer haben. Ich habe schon oft das Vorurteil der Ausländer gehört, dass Schweizer humorlos seien. In der Zwischenzeit denke ich, dies ist gar kein Vorurteil. Ich bin nur froh, dass wir nicht alle so sind… hoffentlich. Ein weiteres Vorurteil, das keines ist, ist, dass der Schweizer um punkt 12 Uhr zu mittagessen muss. Ich sage Euch, unheimlich, mit einem solchen um Mittagszeit unterwegs zu sein.

Pünktlichkeit und Verlässlichkeit sind weitere, und grundsätzlich positive Charakteren für die wir berühmt sind. Dennoch, gibt es auch Kehrseiten dazu. Ist jemand unpünktlich, ist er in Schweizers Augen gleichzeitig auch unzuverlässig (was ich – selber nicht gerade die Pünktlichkeit in Person – natürlich unlogisch, aber auch unfair finde). Der Wartende wird ‚hässig‘ und das Ganze zu einem Drama. In der Schweiz zählt das Wort noch, auch im kollegialen Umfeld. Dies ist etwas, was ich hier manchmal vermisse. Andererseits sehen die Schweizer dies manchmal etwas zu eng. Ich denke, man sollte seine Flexibilität behalten und Pläne spontan ändern dürfen – solange man den anderen darüber informiert, versteht sich. Grundsätzlich finde ich, dass der Schweizer etwas zuviel Energie verschwendet, sich über andere aufzuregen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe unser Land und dessen Bewohner. Mein Nationalstolz ist hier um 100% gewachsen. Dennoch frage ich mich manchmal: Möchte ich tatsächlich so schnell zurück in dieses Land, wo die Leute um 12 Uhr essen müssen und jede Kleinigkeit zu einem Drama ausarten kann?*

Das Schweizerischste überhaupt war aber die 1.-August-Feier am 29. Juli (!!!). Wunderschöne Trachten und Sännechutteli, Alphorn, Jodelchor, Unspunne-Steistosse, Öpfelchüechli, Nussgipfel, Bratwurscht und Servelat, Rippli und Härdöpfelsalat. Sogar einen Schweizer Volkstanz haben sie aufgeführt (ich wusste noch nicht mal, dass es sowas gibt). Als Mitglied des Kommitees durfte ich nach Jahren endlich wieder einmal einen Lampion durch die Gegend tragen. Den Auftrag, den Lampionumzug der Kinder zu führen, werde ich aber das letzte Mal in meinem Leben angenommen haben. Das absolute Chaos! Die vordersten Kinder rannten mehr als dass sie gingen, die kleineren kamen nicht nach, jeder ging einen anderen Weg, während ich damit beschäftigt war, dauernd irgendwelche erlöschten Kerzen wieder anzuzünden. Ausserdem kamen mir nur alle Räbeliechtli-Umzug-Lieder in den Sinn, die mir nicht passend erschienen für einen Lampionumzug. Schnell lernte ich das englische Lied „Twinkle twinkle little star“, welches ich natürlich bis zum Beginn des Umzugs wieder vergessen hatte. Worauf ich mich aber wirklich gefreut hätte, traf nicht ein: Nicht ein einziger Lampion ging in Flammen auf! Wegen der konstanten Feuergefahr in Australien, hatten wir ein bescheidenes 1.-August-Feuer, doch wie uns unser Bundespräsident per Tonband mitteilte, ist es ‚the spirit‘, der zählt! Es war definitiv die beste 1.-August-Feier meines Erwachsenenlebens.

In diesem Sinne wünsche ich euch allen eine tolle 1.-August-Feier (fahrt aufs Land, es lohnt sich!)

Übrigens: Es gilt jeweils die männliche und weibliche Form. Nur damit die Feministinnen unter euch nicht Energie verschwenden müssen, sich über mich aufzuregen… und auch die Maskulinisten sind dann zufrieden, schliesslich haben nicht nur die männlichen Schweizer seltsame Angewohnheiten.

* Die Antwort ist JA!