Gut und Böse ist ein wichtiges Konzept für ein Kind. Und das Wichtigste dabei ist, dass Gut gut bleibt und Böse böse. Es verstört ein Kind, wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse fliessend sind. Ein Erlebnis mit verwischten Gut-und-Böse-Grenzen aus meiner eigenen Kindheit machte mich märchenpolitisch betrachtet voll Pro-Grimm und Anti-Disney.

Chappedieb_transSpeziell der Disney-Film „Tangled“ (zu Grimms‘ Zeiten hiess das Märchen noch „Rapunzel“) verwischt diese Grenzen so stark, dass ich den Film nicht für Kinder unter 14 Jahren freigeben würde. Allerdings empfehle ich ihn allen Kindern über 20! Hervorragend witzig! Die Hexe im Film ist ein manipulatives Biest, welche zwar Rapunzels Entführerin ist, gleichzeitig von diesem als Mutter empfunden wird; es kennt ja nichts anderes. Genau betrachtet ist die Disneyversion – einmal abgesehen vom glühenden, heilenden Haar – näher an der Realität als die grimmsche Hexe, aber für die Psyche kleiner Kinder unzumutbar. Daneben finde ich es harmlos, wenn böse Frauen (Warum sind in Märchen eigentlich nur Frauen böse? Männliche Bösewichte sind ausschliesslich Wölfe) von Hänsel und Gretel verbrannt werden oder in glühenden Schuhen tanzen müssen, bis sie tot umfallen. Immerhin kriegen die Bösen ihre gerechte Strafe und die Kinder können ruhig schlafen. Nicht wie ich seit meinem traumatischen Erlebnis in der Kindheit.

In unserem Dorf lebte einmal ein Mann. Eines Tages klaute er die Mütze meines Vaters und wurde fortan „Chappedieb“ genannt. Das ganze Dorf lebte in Angst und Schrecken vor ihm und nie wurde etwas gegen ihn unternommen. Kein Happy End.

Ich habe erst als Erwachsene erfahren, dass nur unsere Familie ihn unter diesem Namen kannte. In meinen Augen war er ein Schwerverbrecher, der ins „Chefi“ musste. Angst gehört zum Leben eines kleinen Mädchens, das ist ok; was mich allerdings zutiefst verstörte, waren meine Eltern, die ihn nett grüssten und sogar auf dem Dorffest zusammen mit ihm tranken und lachten. Wie hatte er sie verhext? Wie konnten sie mit diesem Mann, der jederzeit zum brutalen Mörder werden oder uns wenigstens noch weitere Kleidungsstücke stehlen würde, überhaupt noch sprechen? Warum hatten sie nicht schon lange die Polizei gerufen?

Natürlich weiss ich heute, dass der Chappedieb an einem wahrscheinlich feucht-fröhlichen Abend die Mütze unabsichtlich aufbehalten und einfach nie zurückgegeben hatte. Trotzdem, meine Abneigung ihm gegenüber blieb. Bis heute fürchte ich den Anblick eines jeden Citroën DS, denn das war das Fahrzeug des Verbrechers; bis heute jagt mir der Name „Meier“ Schauer über den Rücken, denn das war sein Name – ein seltener Name zum Glück!

Ambivalenz schürt Ängste und prägt ein Leben lang. Natürlich bin ich heute froh, dass der Chappedieb nicht seine „gerechte“ Strafe bekam und verbrannt wurde. Immerhin war der arme Kerl (fast) unschuldig. Dennoch, eine leise Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass ich endlich Ruhe finden würde, müsste er wenigstens ein bisschen in glühenden Schuhen tanzen.